Ruhe in Gott über allen andern Dingen und Gaben

 1. Über allem und in allem, meine Seele, ruhe stets in Gott, dem ewigen Frieden der Heiligen.
Milder, teuerster Jesus, lass mich in Dir ruhen, über jedem Geschöpf, über aller Gesundheit und Wohlgestalt, über Ruhm und Ehre, Macht und Würde, Kenntnis und Spitzfindigkeit, über Reichtum und Kunst, über jeglicher Lust und Wonne, über jedem Namen und Lob, über Süßigkeit und Tröstung, Hoffnung und Verheißung, Verdienst und Verlangen, über sämtlichen Gaben und Wohltaten, die Du mittteilen und einflößen kannst, über jeder Freude und jeder Trübsal, die der Geist zu erfassen und zu fühlen vermag, endlich über Engeln und Erzengeln und jeder himmlischen Heerschar, über allem Sichtbaren und Unsichtbaren, kurz über allem, was Du, mein Gott, nicht bist.
2. Niemand ist besser als Du, mein Herr und Gott, niemand erhabener, mächtiger, genügender und inhaltsreicher, niemand milder und tröstlicher, schöner und liebwerter, edler und über alles herrlicher, in dem alles Gute zugleich und vollkommen ist, war und immer sein wird.
Deshalb verblasst und tritt zurück alles, was Du mir außer Dir gibst, offenbarst und versprichst, wenn ich Dich nicht schaue und voll erfasse.
Mein Herz verlangt zu keiner Ruhe und zu keiner restlosen Befriedigung, solange es nicht in Dir ruht und über alle Gaben und Geschöpfe hinauskommt.
3. O mein geliebter Bräutigam Jesus Christus, Du liebst ganz lauter und leitest alle Geschöpfe. “Wer gibt mir Flügel” wahrer Freiheit, “um zu fliegen” und in Dir zu rasten?
Wann werde ich recht ruhen und einsehen können, wie süß Du bist, Herr, mein Gott?
Wann werde ich mich vollständig in Dir verlieren dürfen, so dass ich, lieberfüllt Dir gegenüber, nicht mehr mich fühle, sondern jenseits aller Sinne und Weisen nur noch Dich auf ungewöhnliche Weise?
Gegenwärtig seufze ich oft und leide unter meinem Elend. Denn viel Übles begegnet einem in diesem Jammertal: Übles, das mich häufig beunruhigt, betrübt und umnebelt, hindert und zerstreut, verlockt und verwickelt, und mir den freien Zutritt zu Dir verwehrt, und den beglückenden Genuss Deiner Umarmung vorenthält, der den seligen Geistern unaufhörlich zuteil wird.
Lass Dich erweichen durch mein Seufzen und die vielfache Trostlosigkeit dieser Welt.
4. O Jesus, Glanz der ewigen Glorie, Trost unsrer seelischen Pilgerschaft, an Dich wendet sich trostlos mein Mund, und mein Schweigen redet zu Dir.
Wie lange verzögert mein Herr Sein Kommen? Er möge mich Armseligen doch aufsuchen und frohmachen, Seine Hand ausstrecken und mich Elenden aller Not entreißen.
Komm, komm, denn ohne Dich gibt es weder frohe Tage noch frohe Stunden.
Meine Freude bist Du; leer steht meine Tafel ohne Dich.
Elend bin ich und wie eingekerkert und gefesselt, solange Du mich nicht erquickst mit dem Licht Deiner Gegenwart, mir die Freiheit nicht schenkst und mich freundlich anblickst.
5. Mögen andere statt Deiner dies oder jenes suchen; mir gefällt nichts anderes, noch wird mir je etwas anderes gefallen außer Dir, meinem Gott, meiner Hoffnung, meinem ewigen Heil.
Ich werde nicht schweigen noch zu bitten aufhören, bis Deine Gnade wiederkehrt und Du mich erneut innerlich bewegst.
6. “Siehe, da bin Ich.” Siehe, Ich stehe dir zu Diensten, weil du Mich gerufen; deine Tränen und deine Sehnsucht, deine Verdemütigung und deine Zerknirschung haben Mich erweicht und dir zugewandt.
7. Und ich sprach: Herr, ich rief Dich und verlangte Dich zu genießen, bereit, Deinetwegen alles zu verachten.
Du hast mich angetrieben, Dich zu suchen.
Sei gebenedeit, Herr, der Du im Übermaß Deines Erbarmens “Deinem Knecht diese Wohltat erwiesen hast”.
Welch andere Äußerung bleibt fortan Deinem Knecht vor Dir als die tiefste Verdemütigung, im steten Bewusstsein seiner Schuld und Unwürdigkeit?
Unter allen Wunderwerken im Himmel und auf Erden kommt Dir keines gleich. Unübertrefflich sind Deine Werke, wahrhaft Deine Gerichte, und alles leitet Deine Vorsehung.
Lob sei Dir und Ruhm, o Weisheit des Vaters; Dich preise und verherrliche mein Mund, mein Herz und alles Geschaffene.

Aus: Thomas von Kempen, Nachfolge Christi. Benziger Verlag 1979. Drittes Buch, 21, S. 158-160

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